Placebo – Reading Festival, UK


Sonntag, 29. August 2004
Foto-Job: Placebo @ Reading Festival, UK
backstage & onstage

Einmal Frankreich und zurück

Nach einem freien Tag bin ich auf dem Weg in das Herz von London’s West End und zum St. Martins Lane Hotel insbesondere, um die Amerikaner pünktlich um 12.00 Uhr mittags zu treffen. Sie hatten mir netterweise eine Mitfahrt nach Reading angeboten, wofür ich sehr dankbar war. Das St. Martins Lane Hotel ist ein Deluxe-Designer-Hotel, für das Philippe Starck nicht nur die goldenen, zahnförmigen Hocker in der Eingangshalle entworfen hat.

Der Hotelbesitzer beschreibt es als jung, cool, fröhlich, hell und dass es wie die Essenz von London alles zusammen ist. Nachdem was ich gesehen habe kann ich nur zustimmen, es ist ein Grund, warum ich London liebe: sein Stil in modernem Design und die Kunst, die es allgemein zu bieten hat. London hat eine komplett einmalige Atmosphäre, mit der sich keine andere Stadt messen kann. Seit ich 1990 das erste Mal dort war, ist London meine Lieblingsstadt mit ihren Kunstgalerien, Museen und der Musikszene. Es ist immer ein inspirierender Trip hierher zu kommen. Und was dieses Hotel angeht, ich bin hier zum ersten Mal 2002 gewesen, als Dimitri Tikovoi, brillianter französischer Produzent und der Mann hinter Trash Palace, hier in der hoteleigenen stylischen Light Bar aufgelegt hatte. Brian Molko und Michael J. Sheehy (Dream City Film Club, Saint Silas Intercession) waren auch dort gewesen. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, dass die versnobten Kellnerinnen mich und eine Freundin erst völlig ignorierten – bis sie mitbekamen, dass wir Brian kennen und ihr Verhalten wechselte sofort in extrem aufmerksam und anbiedernd, herumscharwenzelnd. Solche Leute tun mir einfach nur Leid.

Okay, zurück zu dem eigentlichen Tag. Heute hatten wir also einen Fahrer der, wie er uns erzählte, vorher u.a. schon Leute wie Jennifer Lopez und Craig David gefahren hat. Wir holen noch jemanden in Chelsea ab, bevor wir uns dann aus der Stadt machen. Es ist eine wirklich kurze Fahrt heute, kein Vergleich zu unserer Reise nach Leeds. Wir überschreiten die Reading Stadtgrenze um ca. 13.00 Uhr und Stef textet mir, „Wir sind unterwegs“. Ihr Auftritt ist heute um 19.10 Uhr, also noch eine Menge Zeit. Wieder kommen wir früher an als die Band und nachdem wir die Garderoben-Container inspiziert haben, schauen wir uns das Festivalgelände ein wenig an. Man muss betonen, dass das Reading-Publikum zu dem Zeitpunkt eine sehr feindselige Menge war – sie hörten nicht damit auf, Finnland’s arme The Rasmus, die verzweifelt versuchten ihr Ding auf der Bühne durchzuziehen, auszubuhen und sie mit Flaschen zu bewerfen ! Das Publikum ließ sie einfach nicht in Ruhe spielen. Es schmiss nicht nur eine Flasche nach der nächsten, sondern tatsächlich alles, was ihm in die Hände kam, wie Gras, Matsche, Essen, Abfall – alles war gut genug als Wurfgeschoss ! Von weitem betrachtet war es ein bizarres Spektakel, man sah nur Zeugs durch die Luft fliegen, aber für The Rasmus war es wahrscheinlich der schlimmste Moment in ihrer jungen Karriere. Nach 15 Minuten war das Konzert vorbei. Mir taten jene Fans Leid, die weit gereist waren, um sie zu sehen. Die Dropkick Murphys und The Streets dann kamen beim Publikum besser an. Obwohl es sich wieder zeigte, dass, meiner Meinung nach, das Live-Format nicht wirklich für The Streets funktioniert. All das Sprechen lässt sich nicht wirklich gut auf der großen Bühne umsetzen.

Reading2_Diary

Mittlerweile waren die Placebo-Jungs angekommen und richteten sich erstmal Backstage ein. Der Backstage-Bereich war viel kleiner als in Leeds, kein Platz für ihre eigene tragbare Disko, die sie überall mit hinschleppen oder für Tischtennis. Da Reading sehr nah an London ist, kamen eine Menge ihrer Freunde, um sie zu sehen und es gibt ein großes Hallo als Dave McLean, Placebo’s anderer Co-Manager, aufläuft. Er kommt direkt aus seinem Büro in Bangkok, von wo aus er den asiatischen Markt für Placebo knacken will. Levi ist auch anwesend und in einem Mulitmedia-Moment mache ich ein Foto von ihm während er die Band filmt. Der 4AD Placebo-Comic macht die Runde und Steve beginnt seine Übungen – jeder sucht etwas, womit er die Zeit und die Nervosität umbringen kann. Sie sagen, „Reading ist London auf einer Wiese !“. Ich gebe ihnen den Ratschlag so zu tun, als wenn sie in Frankreich wären und alles fantastisch wäre ! Schnell klopfen wir Sprüche wie, „Willkommen zurück in Frankreich ! Ist das Wetter hier in Frankreich nicht einfach wunderbar ?“ und so weiter. Nur oft genug sagen und dann funktioniert es…Brian verschwindet mit seiner Freundin und ein paar Freunden, um sich eine Band anzusehen während Stef sich die Zeitung schnappt und wahrscheinlich über das Wetter in, ähm, Frankreich liest ?…Dann ist es auch schon wieder Zeit, sich passend für den Erfolg anzuziehen (= schwarz) und die Schminke aufzuschmeißen. Wieder beweisen blasse Gesichter mit eher ernsten Ausdrücken, dass der Nervenkitzel immer noch da ist. Ich habe ähnliche Fotos von Bono & U2 im Rolling Stone Magazin neulich gesehen. Es passiert den besten. Xav hat seine Hände gefaltet, als wenn er beten würde, während Bill sich zwischen den Containern noch mal erleichtert. Und dann zelebrieren sie wieder die Gruppenumarmung. Ich folge ihnen zur Bühne und mit jedem Schritt, den wir näher kommen, wird die Menge lauter. In Reading ist die Hauptbühne nicht zu weit vom Backstage-Bereich entfernt – also heute kein piekfeines Golfauto, was uns einen Hügel hoch bringt. Oben hinter der Bühne, nur Sekunden bevor ihre Show losgeht, erscheinen die Jungs nicht so angespannt wie in Leeds. Trotzdem ist es eine Erleichterung, als sie endlich auf die Bühne marschieren und ein Biest von einer Show starten. Nur Stefan lauert immer noch hinter dem Bühnenbild und hat die Bühne noch nicht betreten. „Taste In Men“ hat schon lange angefangen, aber Stef zögert es noch hinaus – bis zu der Stelle, wo sein Bass jeden Moment einsetzen soll und er sprintet zu seinem Platz. Es geht doch nichts über einen großen Auftritt, was !

Während des Konzertes geht die Sonne langsam unter und sie badet die ganze Bühne in dieses besonders leuchtende, atmosphärische Licht – während Gummi-Entchen auf die Bühne fliegen ! Brian hatte einmal Gummi-Enten in einem Interview erwähnt und wird seitdem mit ihnen bombardiert. Ich entdeckte sogar ein Enten-Transparent in der Menge.

Einer von Placebo’s amerikanischen Freunden, der von der Bühnenseite zugeschaut hatte, hob schnell eine Ente auf, als die Jungs die Bühne verlassen hatten – um sie mit nach Hause in die USA zu nehmen für Stefan’s kleine Nichte. Reading bekam die selbe Greatest Hits Setliste wie Leeds und wieder war es ein hochprozentiger Energie-Cocktail.

Ich genoss wieder die Tatsache, dass ich den ganzen Tag und das ganze Konzert Zeit für meine Arbeit hatte und nicht strikt limitiert war auf nur die berüchtigten ersten drei Songs. Diese Limitierung ist wahrlich ein Ärgernis für jeden Fotografen, der ‘das Foto schlechthin’ machen möchte. Der Alltag eines Konzertfotografen sieht so aus, dass man mit mindestens einem Dutzend anderer Fotografen nur drei Songs (manchmal nur zwei, im schlimmsten Fall nur einen) am Anfang der Show zum Fotografieren bekommt, während man im Graben zwischen der Bühne und dem Publikum eingepfercht ist. Von vielen wird das als unnötiges Kontrollieren angesehen, besonders bei großen Stadion-Shows, wo der Graben in dem man vor der Bühne fotografiert, die ‚Sicherheitsrinne’ zwischen den ersten Reihen und der Rand der Bühne ist. Die Bühne ist oft 3 Meter hoch oder höher, so dass man kaum irgendjemandem die Sicht versperrt und so ist anscheinend die einzige Entschuldigung hierfür das Ego und die Eitelkeit seitens des Künstlers ? Ich meine, was sonst ? Heutzutage möchte jeder so perfekt wie möglich aussehen auf den Fotos. Dies scheint offensichtlich verschwitzte Gesichter, verschmiertes Make-Up und ein Chaos von tropfnassem Haar auszuschließen. Aber Schweiß und Wahnsinn und verzerrte Gesichter sind sichtbarer Beweis eines großartigen Rock-Gigs und von schwirrender Live-Energie ! Künstler sollten wahrhaftig bleiben und auf Authentizität setzen. Es ist auch deshalb schade, weil die besten Szenen erst auf der Bühne passieren, wenn die Künstler sich aufgewärmt haben, nachdem sie alle Schüchternheit abgelegt haben, d.h. zum Mittel/Ende der Show hin – wenn die Fotografen schon lange weg sind. Als Beck beim Bizarre Festival 2000 spielte, wurden völlig verwirrte Fotografen aus dem Graben gedrängt, sobald der erste Song vorbei war. Und manchmal wird man sogar gezwungen, wenn es ein Hallengig ist, das Gebäude zu verlassen nachdem man mit seinem Job fertig ist und man darf nur ohne seine Kamera wieder rein (dies ist mir einmal mit Nine Inch Nails und zweimal mit Placebo passiert). Lächerlich.

All das macht es schwerer, hervorstechende Aufnahmen, die sich von der Masse abheben, zu bekommen. Wo sind die wilden Chaos-Fotos, die wir z.B. aus den Siebzigern kennen ? Wie von Mick Rock und solchen Leuten. Es ist alles zu kontrolliert heutzutage.

Reading1_Diary

Backstage nach der Show hören Placebo von ihren Managern, dass es ihr bisher bester Reading-Auftritt gewesen ist und sie sind glücklich. Wir sind alle in vergnügter Stimmung und ich mache ein paar Schnappschüsse mit einer kleinen Kamera nur für mich. Während wir viel Spaß haben, begibt sich der Gangster-Pimp-Rapper 50 Cent auf die Bühne. Ich persönlich würde nicht mal 50 Cent bezahlen, um ihn zu sehen ! Ich schätze, das Publikum sah das ähnlich. Jemand hatte ihre Wiederholungstaste gedrückt und sie gaben ihrer „Ausbuhen und Flaschen schmeißen“-Software einen gloriosen zweiten Durchlauf. Nach kurzer Zeit hörten wir einen lauten Knall, der von der Hauptbühne kam. Den ganzen Tag über hatte Stef eine urkomische 50 Cent-Parodie abgeliefert, indem er andauernd meinte, „Ich bin 9 mal angeschossen worden ! Ich bin 9 mal angeschossen worden !“. Also, war 50 nun ein zehntes Mal angeschossen worden ? Nein, das Publikum hatte ihn nur erfolgreich mit ihrem Flaschenhagel von der Bühne vertrieben und vor Wut hatte der das Mikrofon auf den Boden geknallt. Somit standen Green Day nun mit mehr als 2 fetten Stunden für ihre Show da ! Fairer Handel.

Die Amerikaner drängen darauf zu verschwinden, bevor Green Day fertig sind, um zu vermeiden, in den Menschenmassen stecken zu bleiben. Also wurde es Zeit, allen auf Wiedersehen zu sagen – was natürlich einige Zeit dauert. Unser Fahrer wartete bereits auf uns und ich bin glücklich und dankbar, dass sie mich wieder mitnehmen. Der Fahrer hatte sogar alte Zeitungen auf den Boden im Auto ausgelegt, nur für den Fall, dass wir tatsächlich die Nerven besitzen würden, mit vermatschten Schuhen einzusteigen. Wie unglaublich aufmerksam – und wie Rock’n’Roll-unstandesgemäß ! Aber keine Angst, kein matschiger Matsch in Sicht. Und so fuhren wir zurück nach London. Um 23.30 Uhr bin ich zurück im Holiday Inn, wo ich auf mein großes Bett falle, immer noch high von den Erfahrungen des Tages…und ich konnte es kaum noch abwarten, die Filme entwickeln zu lassen.

Ich bin sehr zufrieden damit, wie die Fotos und die tatsächlichen Abzüge der fly-on-the-wall-Fotografie geworden sind. Was ich auch sehr begrüßte war die Tatsache, dass ich während des Shootings niemanden belästigen musste, sondern dass ich viel organischer arbeiten konnte, indem ich das fotografierte, was gerade passierte, in einem dokumentarischen Stil. Deswegen sind meine Fotos sehr authentisch und zeigen, wie natürlich und lustig Placebo eigentlich sind. Attribute, die ich den meisten gestellten, steifen Studio-Aufnahmen definitiv vorziehe.

Übrigens, am nächsten Tag habe ich mir noch zwei großartige Ausstellungen (beide in der Hayward Gallery, South Bank Centre) angesehen. Die eine war Jacques Henri Lartigue, ein französischer Fotograf, der von 1894 bis 1986 lebte. Im Mittelpunkt der Ausstellung waren 100 große Alben, an denen er sein Leben lang gearbeitet hatte – ein einmaliges und hervorstechendes Dokument seiner Zeit, als Leihgabe zum allerersten Mal außerhalb Frankreichs. Die zweite war „About Face – Fotografie und der Tod des Portraits“. Eine ganz herrliche Ausstellung, die die zentrale Frage stellte, „Können wir das Portrait noch für bare Münze nehmen im Zeitalter der digitalen Technik und der Medienvorherrschaft, der Wunderdrogen, der Schönheitsoperationen und der Genmanipulation ?“. Es gab noch mehr Ausstellungen, die mich interessierten – in London hat man die Qual der Wahl – aber ich musste leider schon wieder zurück nach Deutschland fliegen. Dann bis zum nächsten Mal…

Claudia Schmölders

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